Falls Sie links kein Menue sehen, geht es hier zur Startseite von FRANKFURT-NORDEND.DE

Aus „Das unbekannte Frankfurt“ Band 1, Walter Gerteis, 1961

DAS WASSERSCHLÖSSCHEN IN DER OEDE

Patrizier!

Immer und immer wieder taucht dieses Wort in der Geschichte Frankfurts auf. Patrizier waren die angesehenen und reichen Bürger der Stadt, die ihre Geschicke lenkten und ihre Politik machten. Als freie »Königsleute« waren sie einst durch Grundbesitz reich geworden, als Kaufherrn hatten sie den Reichtum vervielfacht. Sie waren der Stadtadel. Kaiser waren ihre Gäste. Sie waren die Herren der Stadt, und sie fühlten sich auch als solche. Gegen ihre Macht hat es stille und blutige Revolutionen gegeben.

Wir wollen von einem solchen Frankfurter Patriziergeschlecht erzählen. Von dem ältesten in der alten Bürgerstadt. Einer der schönsten Flecken Erde, den Frankfurt besitzt, legt davon Zeugnis ab.

Dazu müssen wir einen kleinen Spaziergang machen. Er führt uns zu einem merkwürdigen Tor.

Es steht groß und breit an einer Hauptstraße. Aber niemals geht ein Mensch hindurch. Seit vielen Jahren nicht mehr. Links und rechts von dem Portal ist nichts - keine Wand, keine Mauer, kein Zaun. Das Tor steht für sich allein. Es hat seinen Lebenszweck verloren. Es öffnet nichts, es verschließt nichts, und es führt nirgendwohin. Die Zeit und die Menschen haben es vergessen. Es ist sein eigenes Denkmal geworden. Ein liebenswürdiges Kuriosum. Eine Erinnerung. Und eine Markierung.

Das einsame Tor steht am Oeder Weg. Gleich nach dem Adlerflychtplatz beginnt auf der linken Seite der Traum von einer Allee. Sie ist nur kurz, zwei, drei Reihen von stattlichen Ulmen. Sie mögen 200 Jahre alt sein.

Die Straßenbahn biegt nach rechts in die Glauburgstraße ab. Wenige Schritte weiter auf der linken Seite des Oeder Wegs steht das vergessene Tor. Steinsäulen flankieren die schmiedeeiserne Einfahrt, und steinerne Vasen thronen auf ihnen. Wir spähen zwischen den Gitterstäben hindurch. Etwa 200 Meter entfernt, am Ende einer Allee hoher alter Kastanienbäume, steht das Haus, zu dem das Tor einst hinführte. Und nun erkennt man auch, daß die Ulmenallee, die wir heraufkamen, früher zu dem Besitz gehörte, daß sie an seinem Rande lag. Wir gehen um das einzelnstehende Tor herum — seine Klinken sind abgebrochen oder lassen sich nicht mehr bewegen — die Kastanienallee entlang auf das Gebäude zu. Es steht mitten in einem kleinen Teich, eine zweibogige Steinbrücke führt zu ihm hinüber. Das Wasserschlößchen im Holzhausenpark! Eine der liebenswürdigsten Oasen in Frankfurt. Und eine echte Idylle!

Durch rund ein halbes Jahrtausend war dies der Sommersitz, später Stammsitz der Familie Holzhausen. Vor wenigen Jahrzehnten erst starb die ältere Linie aus. Die Stadt erwarb Park und Gebäude. Zunächst zog ein Archiv ein. Seit ein paar Jahren ist das Museum für Vor- und Frühgeschichte der neue Hausherr. Das Barockschlößchen besitzt eine Besonderheit! Eine Frankfurter Spezialität. Sie sitzt oben auf seinem Dach. Es ist ein ummauertes Extrazimmer mit einem eigenen Dächelchen. Ein Ausguckturm, ein Belvederchen, wie es die alten Frank­furter auf ihren Häusern so sehr liebten. Noch heute kann man das Zimmerchen vom Dachboden aus nur mit einer Leiter erreichen, so wie damals, als man das Haus baute.

Damals! Das war 1729. Das Schlößchen ist 230 Jahre alt. Ein französischer Architekt baute es (er hieß de la Fosse, und er baute auch das Darmstädter Schloß). Vorher stand an derselben Stelle, mitten im Wasser, ein burgähnliches Gebäude mit Zugbrücke und schwerem Turm. Ringsumher waren Acker und Wiesen und Alleen, Scheunen und Ställe. Ein großer Gutshof. Er hieß die Holzhausen-Qede. Auch andere Höfe um Frankfurt nannte man so: Qede.

Nach der einen Deutung heißt Oede Besitz, man verweist auf das Wort Kleinod, nach einer anderen Ansicht soll Oede nichts anderes ausdrücken, als daß diese Höfe eben einsam lagen. Einsam! Man schaue sich einen Stadtplan von heute an! Der Holzhausenpark liegt fast genau in der Mitte der Stadt. Noch vor acht oder neun Jahrzehnten war er ein ländlicher Gutshof vor den Toren Frankfurts, ein vereinzelter Wohnsitz zwischen der Stadt und den weit draußen liegenden Dörfern Eschersheim und Eckenheim. Und das Sträßchen, das zu ihm hinführte, hieß sicher nicht umsonst der Qederweg...

An der Terrasse, auf der die Besucher die Enten und Schwäne füttern und ihren Fotoapparat zücken, steht ein Gedenkstein. Er verkündet die erstaunliche Tatsache, das das Geschlecht der Holzhausen der Reichsstadt Frankfurt 66 Bürger gestellt hat. Nach anderer Zahlung waren es sogar rund 70! Bürgermeister! So mancher Holzhausen wird zwei- oder dreimal Bürgermeister gewesen sein (der Hamman war es sogar viermal). Man stelle sich trotzdem diese lange Reihe würdevoller Männer in ihren Amtstrachten vor! Wenn es stimmt, was wir eruierten, daß nämlich der jetzige Qberbürgermeister, Bockelmann, der 385. Qberbürgermeister unserer Stadt ist (oder älterer Bürgermeister, wie man früher sagte), dann kann man eine kleine Rechnung aufstellen. Verdoppeln wir der Einfachheit halber die Zahl, denn es gab stets noch einen »jüngeren« oder »Unter«bürgermeister (zur Zeit Bürgermeister Menzer), dann kann man sagen, daß rund jeder zehnte Bürgermeister den Namen Holzhausen trug! Und das war etwas, Bürgermeister der Reichsstadt Frankfurt! Da bliesen die Herolde in die Posaunen, wenn einer von ihnen zu Besuch kam! Und es wird auch verständlich, warum es immer wieder Leute in Frankfurt gegeben hat, die meinten, es müsse auch einmal ein anderer als immer nur ein Patrizier und ein Holzhausen Bürgermeister werden können.

Die Holzhausen stammten aus dem Ort gleichen Namens bei Homburg (heute heißt er Burgholzhausen). Um die Mitte des 13. Jahrhunderts kam ein Heinrich von Holzhausen nach Frankfurt, und er scheint gleich auf den ersten Anhieb das damalige höchste Bürgeramt erreicht zu haben: er wurde Schöffe.

Dieses Frankfurter Geschlecht der Holzhausen, die ältere Linie, starb 1923 aus. Dazwischen liegen rund 700 Jahre. Wir haben den Respekt vor solchen Zahlen etwas verloren. Aber man muß sich das doch einmal vorstellen: 700 Jahre! Ein Bürgergeschlecht! In einer Stadt! Als die Holzhausen schon zweieinhalb Jahrhunderte in Frankfurt lebten, kamen die ersten weißen Menschen nach Nordamerika.

Durch Grundbesitz, durch Handel, durch Versippung wurden die Holzhausen mächtig. Die Frankfurter Patrizier schlossen sich zu Gesellschaften zusammen. Ihre weitaus wichtigste wurde die Gesellschaft Alten-Limpurg. Sie saß im Rat auf der ersten Bank und führte das große Wort. Die Holzhausen spielten in ihr die führende Rolle. Das Haus, in dem sich die Mitglieder der Gesellschaft gesellig trafen, gehörte einst ihnen. Wenn Sie vor dem Römer stehen, lieber Leser, dann ist es das Eckhaus der Häuserfront links vom Haus Römer. Es heißt heute noch Haus Alt-Limpurg, und auch die Gesellschaft, die Ganerbenschaft AltenLimpurg, existiert noch! Friedrich Baron Holzhausen in Kronberg von der jüngeren Linie der Holzhausen gehört zu ihrem heutigen Vorstand.

Die Geschichte alter Familien verläuft meistens in Wellenbergen und Wellentälern. Die Geschichte der Holzhausen — das aufschlußreiche Buch, das Dr. Franz Lerner 1953 über die Holzhausen veröffentlicht hat, bestätigt es — zeigt eine erstaunliche Stabilität und Gleichmäßigkeit über die Jahrhunderte hinweg.

Natürlich, es gab auch Täler. Im 15. Jahrhundert zum Beispiel, so berichtet Dr. Lerner, machte ein Holzhausen Bankrott, weil er sich in die Idee verrannt hatte, Silber aus einem Porphyrfelsen am Rheingrafenstein zu schmelzen. Und drei Jahrhunderte später brachte ein Scharlatan, ein Baron Creutz aus Homburg, einen anderen Holzhausen fast um sein Vermögen, als er im Holzhausenschlößchen jahrelang seine geheimen und kostspieligen alchimistischen Experimente unternahm.

Aber jene Holzhausen überwogen, die Würden und Reichtum wahrten und mehrten. Mancher bedeutende Mann war dabei. Einem sind wir schon einmal begegnet, bei der Belagerung von 1552. In dieser schweren Stunde betraute dieStadt den Justinian von Holzhausen damit, die Verteidigung vorzubereiten. Justinian und sein Vater Hamman vor allem waren Freunde des Humanismus; daß Frankfurts Schifflein einigermaßen wohlbehalten durch die so bewegten Zeiten der Reformation steuerte, war nicht zuletzt ihr Verdienst. Und immer wieder wurde ein Holzhausen mit wichtigen Reisen und Aufträgen zu den Reichstagen und dem Kaiser betraut.

Ein Schild mit drei Rosen, zwei nebeneinander, die dritte in der Mitte darunter - das war das Wappen der Holzhausen. Kaiser Karl V. bestätigte es durch eigenhändige Unterschrift. Man findet das Wappen an etlichen Stellen unserer Stadt, natürlich am Holzhausenschlößchen, aber auch im Dom, auf dem Friedhof, selbst, wenn wir uns recht erinnern, auf Gedenktafeln im Stadtwald (zwei Holzhausen gehörten der Gesandtschaft an, die 1372 mit Kaiser Karl IV. über den Erwerb des Stadtwaldes aus Reichsbesitz verhandelte). Ein Holzhausen wurde Kammerherr bei der Kaiserin Maria Theresia; von dorther stammte der Freiherr im Namen. Ein anderer wurde Generalmajor beim Feldmarschall Radetzky. Ein dritter rettete an seinem Hochzeitstag zwei Kinder aus einem brennenden Hause. Ein vierter - so bunt ist das Leben - brachte es mit 75 Jahren noch einmal zur Vaterwürde. Und ein Holzhausen schließlich wurde von den Franzosen 1796 als Geisel nach Frankreich verschleppt. Dieser Anton Ullrich von Holzhausen war 1806 dann der letzte Bürgermeister der alten Reichsstadt, als Napoleon ihre Selbständigkeit zunächst einmal beendete.

Die Oede erwarben die Holzhausen 1470. Damals stand in ihrer Mitte eine massive Wasserburg. Bei der Belagerung 1552 wurde sie niedergebrannt. 1571 baute man sie wieder auf. Meistens wohnten die Holzhausen in der Stadt. Die Oede war nur ihr Sommeraufenthalt. Man liebte die Gesellschaft witziger und gebildeter Männer, man liebte Feste.

Fern bleibe dem Ort, wen ein
heiteres Lied nicht erfreut und
wer die Lippe nicht gern netzet
mit lieblichem Wein.

So besang ein Frankfurter Rektor die Oede. Einen der Weine bezogen die Holzhausen gleich von nebenan, den Affensteiner. So hieß ein einsamer Hügel in der Nachbarschaft, wahrscheinlich nach einem Betstein, einem Avestein. Auf diesem Hügel baute dann der Verfasser des »Struwwelpeter«, der Dr. Heinrich Hoffmann, 1864 seine Irrenanstalt. 1927 entstand an derselben Stelle das imposante Verwaltungsgebäude der IG Farben.

Erst im 19. Jahrhundert wohnten die Holzhausen ständig in der Oede. Das heutige Wasserschlößchen war, wie erwähnt, 1729 gebaut worden; es gehörten noch mehr Gebäude dazu, Wohnungen und Ställe — und das Kavaliershaus. Dort befand sich der Trinksaal. Von den Bällen im Kavaliershaus sprachen die Frankfurter. Der vorletzte Besitzer der Oede, Georg von Holzhausen, ein Junggeselle, starb auf einem Münchener Faschingsfest. Das war 1908. (Vom Kavaliershaus sind nur noch zwei Steinstufen und der verrostete Briefkasten übriggeblieben. Vor einigen Jahren mußte es abgetragen werden).

Der Neffe, Adolf von Holzhausen, war der Erbe. Er war der letzte männliche Sproß der älteren Linie. Auch er war Junggeselle. Als er im Inflationsjahr 1923 starb, glaubte er, noch ein reicher Mann zu sein. Aber er war es nicht mehr. Er hatte 1910 die Oede, die 84 Morgen umfaßte, in eine Grundstücksgesellschaft eingebracht. Ein Teil der Oede wurde an Interessenten verkauft, die dort ihre Villen bauten. Das Schlößchen und den Kern des Parkes erwarb die Stadt noch vor dem ersten Weltkrieg.

Die Oede hatte sich auf diese Weise in Bankguthaben verwandelt. Es war ein Millionenbetrag. Adolf von Holzhausen plante dafür eine großzügige Verwendung. Mit dem Geld sollte die Universität eine neue Bibliothek erhalten. Sie sollte zum bleibenden Denkmal der Holzhausen werden. Die Inflation vernichtete die Millionen und alle Pläne...

»SIE MÜSSEN MALEN, HERR THOMA!«

Die Oede fand ihren Maler... Unweit vom Holzhausenpark zieht die Lersnerstraße. Zu den Häusern, die in den Bombennächten niederbrannten, gehört auch die Nummer 20. Seit kurzem steht dort ein neues Haus.

In dem alten Haus, im zweiten Stockwerk, schrieb 1883 ein Künstler begeistert an seine Mutter im Schwarzwald: »Ich habe eine wunderbare Aussicht! « Er meinte den Blick auf die Oede. Es lagen noch keine Straßen dazwischen. Der Maler war Hans Thoma. Die Bilder, die er an seinem Fenster von der Oede malte, gehören zu den liebenswürdigsten, die je in Frankfurt entstanden. »Sie verraten mehr als alle Worte von dem schönen Frieden, der bei uns wohnte.« Dabei hätte Thoma, der erst vor wenigen Jahren aus dem Schwarzwald nach Frankfurt gekommen war, allen Grund gehabt zu klagen. Der Maler war damals, 1883, schon 44 Jahre alt, er hatte Familie, und kein Mensch kaufte seine Bilder. Er malte auf Vorrat: die Bilder stapelten sich in seiner kleinen Wohnung. Er wäre froh gewesen, wenn er für so ein Bild von der Oede 200 Gulden bekommen hätte. Später waren sie ... zigtausend Mark wert. »Die Oed«, jenes bekannte und geliebte Bild vom Holzhausenpark mit den Blumen und dem aufgeschlagenen Buch auf dem Fenstersims im Vordergrund, kostete seinen heutigen Besitzer, das Staedel, allerdings nichts. 1916 erhielt es das Gemälde von einer Marburger Familie zur Erinnerung an einen gefallenen Sohn geschenkt...

Zurück zur Textübersicht